Osteopathie zählt zur evidenzbasierten Medizin im Sinne von Sackett et al., d.h. unter Integration externer Evidenz, klinischer Expertise und Patientenpräferenzen (Sackett et al., 1996, BMJ, 1996). Osteopathie praktiziert alle drei EbM-Säulen konsequent (Schlegl et al., 2017, Stierl, 2024a) und erfüllt damit die Kriterien einer integrativen, evidenzbasierten und eigenständigen Medizinform im Sinne von complex interventions (Skivington et al., 2021).
Methodisch entspricht die Osteopathie dem Medical Research Council Framework für komplexe Interventionen, das pragmatische Forschungsansätze explizit empfiehlt (Craig et al., 2021). Gesundheitsökonomisch und forschungstechnisch positioniert sich die Osteopathie demnach als integrative Gesundheitsdisziplin, die bio-psycho-soziale Modelle (Craig et al., 2021; Watzlawick et al., 1967) mit evidenzbasierten Prinzipien kombiniert und damit das ursprüngliche Sackett'sche Paradigma befolgt.
Da die Evidenz fälschlicherweise von manchen mit der im Koalitionsvertrag verankerten berufsgesetzlichen Regelung in Verbindung gebracht wird, möchten wir uns hierzu äußern.
Berufsgesetzliche Regelung der Osteopathie
Der Koalitionsvertrag sieht eine berufsgesetzliche Regelung der Osteopathie vor, weil die Patienten Osteopathen und Osteopathinnen aufsuchen, ohne zu wissen, ob dieser oder diese eine ausreichende Ausbildung und Abschlussprüfung entsprechend den internationalen Standards (WHO, CEN etc.) durchlaufen haben. Dieser Verbraucherschutz besteht unabhängig des „Totschlagsarguments“ der Evidenz. Verbraucherschutz erfolgt durch konkrete Anforderungen an die Ausbildung und Berufsordnungen und ist gekoppelt an Qualitätssicherung und Patientensicherheit. Nach der Berufsanerkennung wird sich die Evidenz automatisch noch weiter ergeben, weil erst dann klar geregelt ist, was zu überprüfen ist und Minderqualität durch die Regulierung, die einen Mindeststandard festlegt, wegfällt. Auch sinnvolle Forschungsfinanzierung für die Osteopathie wird ein Berufsgesetz voraussetzen. Die internationale und europäischen Lage zeigt, dass das Thema Evidenz kein Thema für die Berufsanerkennung ist: 13 Nachbar-Länder mit Berufsgesetzen, WHO-Standards von 2010, europäische CEN-Norm sprechen hier eine klare Sprache.
Dies vorangestellt bestehen, trotz der fehlenden Finanzierung, bereits heute zahlreiche Studien. So sind u.a. folgende Ergebnisse zu nennen, wobei dies den Diskurs um ein Berufsgesetz nicht zu tangieren hat: Aktuelle Übersichtsarbeit 2022: 9 systematische Reviews, 55 Studien, 3.740 Teilnehmer (Efficacy and safety of osteopathic manipulative treatment, 2022), Signifikante Schmerzreduktion: ES: -0.59; 95% CI: -0.81, -0.36 (PMC, 2022), Funktionsverbesserung: ES: -0.42; 95% CI: -0.68, -0.15 (PMC, 2022).
Bezüglich methodischer Evidenz und komplexer Interventionen ist Folgendes zu erwähnen und für zukünftige Forschung unabdingbar wie erforderlich: MRC- Framework für komplexe Interventionen (Craig et al., 2021; BMJ, 2021), Pragmatische RCTs für Real-World-Bedingungen (Pragmatic randomized controlled trials, 2024), Mixed-Methods-Ansätze zur Wirkfaktor-Erfassung (Theory of Change MRC framework, 2014) sowie Prä-Post-Design, im Sinne von Skalen wie PROMs, OCROOMS, etc.
Internationale systemische Evidenz weist in Italien eine Reduktion von Behandlungsfehlern um 37% nach erfolgter Regulierung auf (Italian Ministry of Health, 2022). Bereits heute überweisen in Deutschland 91.3% Allgemeinärzte an Osteopathen (Bmfampract, 2021). Weitere Evidenzen und Daten zu Wirkung, Gesundheitsökonomie (Kosteneffizienz durch Osteopathie etc.) sowie Spektrum sind in über 10.000 Studien vorhanden. Relevantestes nennenswerte Beispiel für eine Osteopathische PROM-Studie ist wohl eine prospektive Kohortenstudie mit 1.721 Patienten aus Großbritannien, mit Bournemouth Questionnaire als primäres Instrument und Global Rating of Change Scale. 89,1% der Patienten berichten nach 1 Woche Verbesserungen, 92,8% nach 6 Wochen, wobei 88,1% sehr zufrieden waren mit der osteopathischen Behandlung. Die Studie zeigt eine signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung von 56,8% im BQ-Score (von 30,8 auf 13,3 Punkte) auf (vgl. Fawkes & Carnes, 2021). Aufgrund des breiten Wirk- und Indikationsspektrums der Osteopathie in Bereichen der Inneren Medizin, Neurologie, des Bewegungsapparates, aber u.a. auch der psychischen Gesundheit, zeigen Daten von Bagagiolo, Pozzi und Ruffini aus 2025 (20 RCTs mit hoher methodischer Qualität) eine signifikante Reduktion von Depressionen bei Schmerzpatienten.
Dennoch gibt es definitiv nicht genügend Studien zur Osteopathie. Durch eine wachsende Akademisierung, das Berufsgesetz und sich daran anschließende Forschungsgelder sowie eine adäquate Forschungsmethodik, wird sich die Evidenzlage weiter verbessern. Es sei jedoch nochmals zu betonen, dass Evidenz in keinem anderen Land als Grundlage für die staatl. Regierung und Anerkennung herangezogen wurde.
Wir erwarten aufgrund der berufsgesetzlichen Regelung eine Berücksichtigung der Osteopathie als eigenständigem Heilberuf aufgrund internationaler Rechtsgrundlagen und Standards zur Sicherung und Gewährleistung von Patientensicherheit und Qualitätssicherung. Die von den Patienten nachgesuchte Berufsbezeichnung „Osteopath“ und „Osteopathin“ muss gegen Missbrauch durch Koppelung mit hohen Standards nach internationalem Vorbild (WHO 2010, Osteopathy Europe, 2024) gesichert und damit eine EU-weite Anerkennung nach Richtlinie 2005/36/EG (European Commission, 2024; EuGH C-238/98) sowie nach den Standards der EU-Norm CEN 16686 ermöglicht werden.
In der Folge einer berufsgesetzlichen Regelung und den damit gewährleisteten Qualitätsschutz ist eine sinnvolle Forschung durch entsprechende Forschungsfinanzierung möglich. Der Teufelskreis „ohne Regulierung keine Forschung“ – „ohne Forschung keine Evidenz“ (Elshaug et al., 2014; OECD, 2017) muss im Sinne der Patientensicherheit durch Regulierung und einheitliche Standards beendet werden.
Durch eine gesundheitsökonomische Integration erwarten wir auch Kosteneinsparungen (vgl. BKK advita: 23% Arztkosten-, 17% Heilmittelkostenreduktion) sowie die Nutzung eines Präventionspotentials (Hochrechnungen zufolge bis zu 10 Mrd. €) und Entlastung der Gesundheitsversorgung bei prognostiziertem Ärztemangel für ein zukunftssicheres, patientenzentriertes und wirtschaftlich-tragfähiges Gesundheitssystem.
Wir erwarten zudem eine internationale Parität durch Angleichung an die EU-Länder, in denen die Osteopathie bereits reguliert ist, sowie eine WHO-konforme Implementierung von einheitlichen Standards und Berücksichtigung der CEN EN 16686 Richtlinie.
Osteopathie und Manuelle Medizin
Allein die Tatsache, dass Osteopathie manuell ausgeführt wird, rechtfertigt nicht die Annahme, dass sie Teil der manuellen Medizin ist und integriert werden könne. Bei Osteopathie handelt es sich um einen eigenständigen Heilberuf mit umfangreicher Ausbildung bzw. Studium im Sinne der internationalen und Europäischen Vorgaben. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Manuellen Medizin als symptomorientierte, mechanistische Anwendung isolierter Techniken. Osteopathie stellt gerade keine Sammlung einzelner Techniken dar, sondern eine ganzheitlich-integrative, eigenständige Medizinform. Nach den WHO-Benchmarks 2010/2024 sind mindestens 4.800 Ausbildungsstunden erforderlich für Philosophie UND Praxis (WHO, 2010, 2024).
Die zentrale Unterscheidung liegt in der osteopathischen Philosophie als fundamentaler Grundlage, die weit über manuelle Techniken hinausgeht. Osteopathie basiert u.a. auf der Einheit von Körper, Geist und Seele (engl. body-mind-spirit) und der Überzeugung, dass der Körper die inhärente Fähigkeit zur Selbstheilung besitzt. Diese Philosophie betrachtet Gesundheit als harmonisches Gleichgewicht, nicht als Abwesenheit von Symptomen. Manuelle Medizin hingegen fokussiert primär auf mechanistische Korrekturen spezifischer muskuloskelettaler Dysfunktionen. Osteopathen diagnostizieren und behandeln nicht nur strukturelle Probleme, sondern berücksichtigen den gesamten Körper inklusive der Psyche und individuellen Biografie sowie deren Wechselwirkungen - Bereiche, die in der manuellen Medizin typischerweise nicht abgedeckt werden. Die europäischen CEN-Standards (EN 16686) definieren klar zwei eigenständige Ausbildungstypen (Type I: 4.800 Stunden, Type II: mindestens 2.000 Stunden), die beide eine umfassende osteopathische Ausbildung in Philosophie, Prinzipien und spezialisierten Techniken erfordern. Diese Ausbildungstiefe ist erforderlich, um die komplexe Integration von strukturellen, viszeralen und kraniosakralen Ansätzen zu meistern, die osteopathische Praxis charakterisiert. Aus diesem Grund gehört Osteopathie auch in umfassend geschulte Hände und kann nicht in kurzen Fortbildungen erlernt und in ihrer Komplexität und Wirkweise verstanden werden.
Durch eine Reduktion der Osteopathie auf eine rein symptomorientierte Sammlung von Techniken könnte Osteopathie weder ihren historischen Kontext noch ihren interdisziplinären Mehrwert für Prävention, Gesundheitsförderung und biopsychosoziale Patientenbetreuung abbilden. Osteopathische Techniken lassen sich erlernen, doch ihre korrekte Indikationsstellung, therapeutische Priorisierung und patientenzentrierte Umsetzung erwachsen einzig aus einer tiefgehenden philosophischen wie praktischer Ausbildung und Praxis. Eine Integration, die diese Dimension wegfallen ließe, wäre kein Fortschritt, sondern die Aushöhlung eines eigenständigen, international regulierten Heilberufs.
Die Patienten haben die Frage nach der Notwendigkeit einer Existenz des Heilberufs des Osteopathen und der Osteopathin bereits beantwortet, indem Sie diesen aufsuchen und mit einem hochgefragten Mandat betrauen. Sie können nun die längst überfälligen einheitlichen Standards und Anforderungen an die Berufsausbildung als Voraussetzung der Berufsbezeichnung erwarten. Solange der Patient tatsächlich im Vordergrund steht, stellt sich daher die Frage nach der „Aufgabe eines eigenen Berufsstands“ nicht. Dieser existiert bereits, muss aber aufgrund der vielen Trittbrettfahrer, die die Beliebtheit der Osteopathie in Ihrem Sinne (Bekanntheit, Abrechnung, Zusatzleistung, etc.) nutzen wollen, gesetzlich geregelt werden und dies im Sinne der Patienten, der Qualität der Osteopathie und v.a. der Patientensicherheit, welche nur durch qualifizierte Osteopathen gewährleistet werden kann.
Wie bereits mehrfach ausgeführt, kann sich die Frage der Evidenz sinnvoll erst zeitlich an die Berufsanerkennung anschließen und sollte jetzt nicht dafür missbraucht werden, die überfällige berufsgesetzliche Regelung im Sinne der Patienten zu verhindern.
Literaturverzeichnis (nach APA-Standard; Auswahl)
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