Interview
mit
Christian Hartmann, Osteopath, Mediziner und Jolandos-Verlagsleiter,
und
Andreas Grimm, philosophischer Coach und Dozent!
VOD: Was können Kongressbesucher von Ihrem Vortrag erwarten?
Hartmann/Grimm: Die Kongressbesucher werden dem Begründer der Osteopathie in seiner Rolle als Buchautor begegnen. Stills erstes Buch trägt den Titel ‚Philosophie der Osteopathie‘. Das ist der Ausgangspunkt des Vortrags mit demselben Titel.
Der Vortrag will verständlich machen, dass Still mit ‚Philosophie der Osteopathie‘ kein Lehrbuch der praktischen, angewandten Osteopathie verfasst hat, sondern eher eine Art Statut oder Manifest dessen, was er unter Osteopathie versteht und verstanden wissen will. Und es soll dargelegt werden, warum und wie sich Still bei der Bewältigung dieses Vorhabens der Philosophie bedient. Erst im Anschluss daran lässt sich der Titel ‚Philosophie der Osteopathie‘ verstehen.
Der Vortragsuntertitel ‚Der Osteopath als ursprünglicher Denker‘ nimmt nun direkt Bezug auf den Kongresstitel ‚OsteopathSein‘. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Philosophie — in Stills Sinne — nicht nur einen Beitrag zur Selbstbestimmung der Osteopathie leistet, sondern auch und vor allem zur Selbstvergewisserung der Osteopathinnen und Osteopathen.
Die weiterführende, im Vortrag aber nur angedeutete Perspektive besteht darin, die Beschäftigung mit Philosophie im Kontext der Medizinsysteme insgesamt -- etwa als Philosophie der Medizin(Systeme) -- anzuregen. Die Philosophie der Osteopathie leistet auch hierfür einen ersten Beitrag.
VOD: Können Sie in einem Satz Stills vordringlichste Intention beschreiben?
Hartmann/Grimm: Still wollte vor allem, dass Osteopathen ‚ursprüngliche Denker‘ sind, d.h. dass sie den Mut haben, unabhängig von allen Autoritäten und jenseits ausgetretener Pfade -- Still spricht von ‚Jenseits der Wagenspuren‘ -- zu denken und zu handeln. Der Verstand ist die einzige ‚Autorität‘, die Still gelten lässt. Nun: Verstand hat jeder. Aber eben den Mut zu haben, wie bereits Immanuel Kant es nannte, sich seines eigenen Verstandes auch tatsächlich zu bedienen -- das kann man durchaus als eine von Stills vordringlichen Intentionen bezeichnen. Wir sehen: An dieser Stelle wird es in der Osteopathie sehr grundlegend, eben philosophisch — aber keineswegs unverständlich.
VOD: Wie kann man den Begriff "ursprünglicher Denker" im Vortragstitel verstehen?
Hartmann/Grimm: Es war anfangs bereits von der Selbstvergewisserung der Osteopathinnen und Osteopathen die Rede. Aber die Nachfrage ist berechtig und wichtig. Es geht darum, dass Osteopathen keine Konzepte, Weltbilder, Techniken etc. -- von niemandem, auch Still nicht – weder ungeprüft zu übernehmen und einfach nur nachahmen, noch pauschal abzulehnen, sondern jederzeit und überall aktiv und kritisch ihren Verstand benutzen. Für die Osteopathen bedeutet das, intellektuell aufrichtig zu sein und sich nicht mit Wissen ‚bedienen‘ lassen, bzw. dem Impuls von Vorurteilen nachzugeben, sondern sich ihre ganz eigenen Gedanken über ALLE Sachverhalte des Lebens zu machen.
VOD: Warum ist ein fortwährender Bezug auf Stills Philosophie auch für die Generation heutiger Osteopathen noch so wichtig?
Hartmann/Grimm: Die Beschäftigung mit der Philosophie der Osteopathie lässt erkennen, dass die grundlegenden Fragen, die Still für die Osteopathie von Anfang an gestellt hat, heute noch genauso relevant -- und vielleicht sogar noch drängender -- sind.
Nehmen wir ein Beispiel: Es geht nicht so sehr darum, zu fragen, wogegen sich die Osteopathie richtet, wovon sie sich absetzt, sondern darum, zu fragen, worauf sie sich richtet, wofür sie eintritt.
Ja, die Osteopathie entwickelte sich in Absetzung von der so genannten Klassischen Medizin der damaligen Zeit. Geleitet wurde diese Entwicklung aber nicht von der Bestrebung, sich absetzen zu wollen, sondern von der Einsicht, sich absetzen zu müssen. Warum? Weil sich die grundlegende Sichtweise durch beständig kritisches Fragen und Nachdenken geändert hat. Mit dem Ergebnis: Symptome nicht zu behandeln, sondern zunächst als Indikatoren der Versehrtheit eines Gesamtsystems zu begreifen. Auf der Basis dieser Einsicht gilt es dann neu zu klären, was Heilung bzw. Therapie überhaupt sein kann. Und das sind Fragen, die eine Philosophie der Osteopathie stellt und deren Wichtigkeit sie auch der Generation heutiger Osteopathen noch zu vermitteln vermag.
VOD: Welche Bedeutung hat Stills Philosophie der Osteopathie für die moderne Ausbildung und Forschung?
Hartmann/Grimm: Das zuvor Gesagte möge deutlich gemacht haben: ‚Philosophie der Osteopathie‘ ist nicht selbst schon Osteopathie. Philosophie ganz allgemein stellt von jeher die Frage, was wir eigentlich wissen können. ‚Philosophie der Osteopathie‘ konzentriert sich indes auf die Frage nach der Reichweite aber auch nach den Grenzen der Osteopathie und osteopathischer Therapie.
Diese Fragen sind aber mindestens genauso wichtig wie die Vermittlung von Behandlungstechniken. Moderne Osteopathie muss deshalb darauf bedacht sein, die Philosophie der Osteopathie in Forschung und Ausbildung deutlich stärker zu gewichten. Nur so lässt sich eine zeitgemäße Kultur der aktiven Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen der Selbstbestimmung der Osteopathie und der Selbstvergewisserung der Osteopathinnen und Osteopathen entwickeln.
Vielen Dank für das Interview!
Seien Sie dabei! Weitere Informationen unter:
www.osteopathie-kongress.de